Das Klischee, dass Männer keine Schwäche zeigen dürfen, hält sich hartnäckig. #MEnToo heißt die Kampagne, mit der die katholische Kirche in Stuttgart für ihr Beratungsangebot für Männer wirbt, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Sie sind nicht eben wenige. Studien gehen davon aus, dass fünf Prozent aller Männer und mindestens fünf Millionen Jungs, Jugendliche und Männer in Deutschland im Laufe ihres Lebens sexualisierte Gewalt erlebt haben oder aktuell erleben. Dennoch ist diese Erfahrung vermutlich kein Thema, über das sie am Stammtisch reden. Wie also erreicht man eine Klientel, die vielleicht Beratung braucht, sich das aber nicht eingestehen kann oder will? Mit einem klassischen Stuhlkreis wohl eher.

Wäre dieser Stuhlkreis jedoch ein riesiges voll besetztes Fußballstadion, das aus allen Nähten platzen würde, kämen alle Betroffenen zusammen. Mit dem Türöffner Fußball und einem Stadionbild spielt deshalb die seit dieser Woche laufende Kampagne #MEnToo und die Internetseite www.men-too.de der Beratungsstelle Ruf und Rat, die sich mit einem speziellen Angebot an Männer ab 27 Jahren wendet, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Dabei ist es ganz egal, ob das Geschehen in der Vergangenheit stattgefunden hat oder aktuell geschieht. Ob die Täter oder Täterinnen dem kirchlichen Umfeld, der Schule, dem Sportverein oder wie in der Mehrzahl der Fälle der eigenen Familie entstammen.

Die Stuttgarter Beratungsstelle ist Teil eines Modellprojekts der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Es befindet sich am Ende seiner dreijährigen Projektphase und soll als dauerhaftes Angebot im Herbst fortgeführt werden. Die Stuttgarter Stelle ergänzt Angebote in Horb und Tuttlingen. Dort liegen die Schwerpunkte im Bereich Sexualpädagogik und der sexuellen Bildung an Kindergärten und Schulen. Alle drei Angebote fußen auf den Erkenntnissen der MHG-Studie von 2018, die sich nach den großen kirchlichen Missbrauchsfällen mit „sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige“ beschäftigt hat. Als Konsequenz daraus soll neben der Entwicklung von Schutzkonzepten für die Zukunft auch das Beratungsangebot ausgebaut werden. Mit der Öffentlichkeitskampagne wollen die Macherinnen und Macher Betroffene auch ermutigen, sich professionelle Hilfe zu holen. Außerdem wollen sie das Thema aus der gesellschaftlichen Tabuzone holen. Denn noch immer wachsen männliche Jugendliche mit einem Männerbild auf, das ihnen vermeintlich männliche Attribute wie Stärke, Dominanz und Wehrhaftigkeit abverlangt. „Wir arbeiten mit unserem Angebot auch ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte auf“, sagt der Weihbischof Matthäus Karrer.

Mit der Beratungsstelle, die sich ausschließlich an Männer richtet, betritt die katholische Kirche zumindest inStuttgart Neuland. Immer wieder seien von Fachberatungsstellen für Frauen Anfragen gekommen, wohin sie denn Ratsuchende Männer schicken könnten. „Diese Lücke in der Beratungsarbeit wollten wir schließen“, sagt Gabriele Stark, die das Beratungsangebot von „Ruf und Rat“ leitet. „Das Thema existiert in der öffentlichen Bewusstsein zu wenig bis gar nicht“, sagt Mihaela Macan. Sie ist Pastoralreferentin und Trauma-Therapeutin. Zusammen mit dem Psychologen und Logopäden Johannes Löhbach und der Juristin Sophie Sonntag gehört sie zum Personal der Stelle.

Bisher haben sich, ohne dass für das Angebot geworben worden sei, 38 Männer gemeldet. Sie stammen, sagt Mihaela Macan, aus allen gesellschaftlichen Schichten und haben sexualisierte Gewalt sowohl durch Männer als auch durch Frauen im familiären Kontext erlebt. In der Beratungsstelle können sie sich persönlich, telefonisch, per Post oder per Mail anmelden und bekommen dann möglichst zeitnah einen Termin. Wie alle Beratungsstellen unterliegen die Mitarbeitenden der gesetzlichen Schweigepflicht. Mögliche Beratungssprachen sind Deutsch, Englisch und Kroatisch.

Von Hilke Lorenz

BERATUNGSANGEBOTE
Auf www.men-too.de gibt es weitere Informationen zum Thema Männer und sexualisierte Gewalt.

Anmeldung bei der Beratungsstelle Ruf und Rat, Hospitalstraße 26, 70174 Stuttgart, Telefon 0711/2262055 oder perEmail an beratungszentrum@ruf-und-rat.de

 

 

ANLAUFSTELLE
Wenn alle von sexualisierter Gewalt betroffenen Männer zusammenkämen, wäre kein Fußballstadion in Deutschland groß genug für sie. Um Betroffenen zu helfen, hat die Diözese eine Anlaufstelle für männliche Opfer ins Leben gerufen und möchte so überholten Geschlechterklischees entgegenwirken.

Männer können genauso Opfer sexualisierter Gewalt werden wie Kinder, andere Schutzbefohlene und Frauen«, weiß Weihbischof Matthäus Karrer. Deshalb gibt es in der Diözese jetzt eine Anlaufstelle für von sexualisierter Gewalt betroffene Männer. Das Beratungszentrum Ruf und Rat in Stuttgart hat es sich zum Ziel gemacht, die Angebotslücke in der Beratung und Begleitung von Männern über 18 Jahren zu schließen.

Die Beratungsstelle ist Teil eines im Juni 2020 ins Leben gerufenen Modellprojekts zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt und wird jetzt als dauerhaftes Angebot etabliert. »Für die Diözese und die Bischofskonferenz ist Prävention ein integraler Bestandteil der kirchlichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie schutz- oder hilfsbedürftigen Erwachsenen«, betont Weihbischof Karrer, der als Leiter der Hauptabteilung Pastorale Konzeption für das Projekt mitverantwortlich ist.

Betroffene Männer erhalten bei Ruf und Rat eine kostenlose, niederschwellige Erstberatung, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt.
»Die meisten Betroffen haben sexualisierte Gewalt im Kontext der Familie erlebt.«
Bereits 38 Anfragen haben die Kontaktstelle erreicht. »Die Not, dass es in Stuttgart bisher keine passende Anlaufstelle gab, ist spürbar. Die meisten Betroffenen haben sexualisierte Gewalt im Kontext der Familie erlebt«, erzählt Mihaela Macan, die als psychologische Beraterin bei Ruf und Rat arbeitet.

Die Betroffenen stammen dabei aus allen gesellschaftlichen Schichten. Unter den Tätern finden sich Männer und Frauen. »Zwischen Täter und Opfer gibt es immer ein Machtgefälle«, erklärt die Leiterin der psychologischen Beratungsstelle, Gabriele Stark. »Das sind oft Menschen, die einem vertraut sind, zum Beispiel der eigene Lehrer oder jemand aus dem Sportverein.«

Johannes Lohbach ist Psychologe und ebenfalls bei Ruf und Rat tätig. »Worüber in der Beratung gesprochen wird und in welcher Geschwindigkeit an den Themen gearbeitet wird, bestimmt der Klient selbst«, erläutert der Business und Life Coach. »Sollten Befürchtungen hinsichtlich bestimmter Aspekte bestehen, können diese jederzeit angesprochen werden.«

Wichtig ist ihm, dass Betroffene keine Hemmungen haben, sich Hilfe zu suchen: »Im schlimmsten Fall wenden sich Männer an die Unterstützungssysteme und werden dann nicht ernstgenommen, zum Beispiel, wenn es sich um eine weibliche Täterin handelt. Das ist in 44 Prozent der Fälle so.« Er weiß auch, dass viele Männer sich erst spät Hilfe suchen: »Manche tragen das sehr lange mit sich rum.«

»Ein Mann ist genauso verletzlich. Er muss das nicht ertragen, wenn jemand etwas tut, das nicht in Ordnung ist«, betont Weihbischof Karrer. »Das ist kulturell in den Geschlechterrollen jedoch noch nicht verankert. Viele gestehen sich das nicht ein, schweigen darüber und ertragen es – bis es irgendwann nicht mehr geht. Das hat mit einem Männerbild zu tun, das in der Nachkriegszeit geprägt wurde. Deshalb ist dieses Projekt so wichtig.«

Gabriele Stark weiß, wie maßgebend es ist, auch die Angehörigen miteinzubeziehen: »Sie sind oft mitschockiert und so nah dran, dass sie etwas Eigenes benötigen. Zudem sind sie gleichzeitig emotionale Stütze für die Betroffenen. Das ist eine Doppelrolle, die nicht immer leicht ist.« In Deutschland haben laut Studien rund fünf Millionen Männer im Laufe ihres Lebens sexualisierte Gewalt erfahren. »Dass Männer sich hilfsbedürftig zeigen, ist in unserer Gesellschaft noch zu wenig verbreitet«, bedauert Pastoralreferentin und Traumatherapeutin Mihalea Macan.
Theresa Zöller

Info: Ruf und Rat – Tel. 07 11 2 26 20 55, beratungszentrum@ruf-und-rat.de, www.men-too.de

Der Artikel Glaubensland ist erstmals im Katholischen Sonntagsblatt erschienen. (KS #14 vom 02. April 2023)
Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion ab.

 

 

 

Stuttgarter Beratungsstelle „Ruf und Rat“ bietet spezielle Kontaktstelle – Angebot ist Teil eines Modellprojekts der Diözese Stuttgart.

Mit einem speziellen Anlaufpunkt wendet sich die Beratungsstelle „Ruf und Rat“ an von sexualisierter Gewalt betroffene Männer. Das Beratungsangebot in der Landeshauptstadt ist Teil eines Modellprojekts der Diözese Rottenburg-Stuttgart (DRS). In dessen Rahmen wurden auch in Horb und Tuttlingen spezielle Beratungsangebote im Bereich der Sexualpädagogik und sexuellen Bildung an Kindergärten und Schulen geschaffen sowie die Kooperation und Vernetzung mit verschiedenen Trägern und Fachstellen initiiert.

„Wir haben vom Diözesanrat den Auftrag erhalten, Beratungskapazitäten auszubauen“, erklärt Weihbischof Matthäus Karrer, warum die DRS die Anlaufstelle als Teil des Modellprojekts konzipiert und finanziert hat. Ausgangspunkt für diese Forderung war die Veröffentlichung der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, die 2018 veröffentlicht wurde. „Der Diözesanrat empfahl als Reaktion darauf, sowohl die Beratung bei erfolgten Übergriffen oder einem Verdacht zu stärken als auch bei der Entwicklung von Schutzkonzepten zu beraten und zu unterstützen“, so der Weihbischof weiter. In der von ihm geleiteten Hauptabteilung „Pastorale Konzeption“ werden die Beratungsangebote koordiniert.

Kein Fußballstadion würde Zahl der Betroffenen fassen

„Men-too“ haben die Fachkräfte bei „Ruf und Rat“ als Titel für das Beratungsangebot gewählt. Dieses, so berichtet Leiterin Gabriele Stark, sei 2020 mit der Erarbeitung eines Konzepts gestartet. Mit Mihaela Macan und Johannes Löhbach stehen mittlerweile qualifizierte psychologische Berater:innen für männliche Opfer sexualisierter Gewalt als Ansprechpersonen zur Verfügung. „Men-too soll deutlich machen, dass auch Männer Opfer sexualisierter Gewalt werden“, sagt Stark. „Wenn alle betroffenen Männer zusammenkämen, könnte kein Fußballstadion in Deutschland diese Menge fassen“, erläutert sie ein Motiv, mit dem „Ruf und Rat“ die Gesellschaft wachrütteln, das Thema enttabuisieren und zugleich eine Versorgungslücke im sozialen Angebot der Stadt Stuttgart und der DRS schließen will.

Lücke im Beratungsangebot wird geschlossen

Dass es den Bedarf einer Beratungsstelle für von sexualisierter Gewalt betroffene Männer gibt, haben die Projektmitarbeiter:innen von „Ruf und Rat“ unter anderem über ihre Kolleg:innen anderer Einrichtungen der Stadt Stuttgart erfahren. „Wir erhielten immer wieder Anfrage von Fachberatungsstellen für Frauen an unser Netzwerk Männerberatung“, berichtet Stark. Wichtig sei jetzt, Betroffene zu ermutigen, sich bei der Kontaktstelle Unterstützung zu suchen und dafür die notwendige öffentliche Sichtbarkeit für das Angebot zu schaffen.

Bislang seien mehr als 20 Männer mit Missbrauchserfahrungen sowie mehrere Angehörige Betroffener, aber auch Täter:innen und so genannte Tatgeneigte zu „Ruf und Rat“ gekommen. „Dass das Angebot bereits wahrgenommen wird, ohne dass wir es publik gemacht haben, zeigt, wie dringend es diese Beratungsstelle bei ‚Ruf und Rat‘ braucht“, sagt Weihbischof Karrer. Das Modellprojekt laufe sowohl in Stuttgart als auch in Horb und Tuttlingen noch bis Herbst und werde dann in ein dauerhaftes Angebot überführt.

Weitere Informationen finden sich online unter www.men-too.de.

Hintergrund:

Rund fünf Millionen Männer haben in Deutschland laut Studien sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter erfahren. Sexualisierte Gewalt findet sowohl bei betroffenen Mädchen als auch bei Jungen vor allem in der Kern- und Großfamilie statt.

 

Verantwortlich: Thomas Brandl, Mediendirektor, Leiter der Stabsstelle Mediale Kommunikation der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Anschrift: Postfach 9, 72101 Rottenburg am Neckar – Dienstgebäude: Bischof-von-Keppler-Str. 7, 72108 Rottenburg am Neckar