Glaubensland „Weil Männer auch verletzlich sind“

ANLAUFSTELLE
Wenn alle von sexualisierter Gewalt betroffenen Männer zusammenkämen, wäre kein Fußballstadion in Deutschland groß genug für sie. Um Betroffenen zu helfen, hat die Diözese eine Anlaufstelle für männliche Opfer ins Leben gerufen und möchte so überholten Geschlechterklischees entgegenwirken.

Männer können genauso Opfer sexualisierter Gewalt werden wie Kinder, andere Schutzbefohlene und Frauen«, weiß Weihbischof Matthäus Karrer. Deshalb gibt es in der Diözese jetzt eine Anlaufstelle für von sexualisierter Gewalt betroffene Männer. Das Beratungszentrum Ruf und Rat in Stuttgart hat es sich zum Ziel gemacht, die Angebotslücke in der Beratung und Begleitung von Männern über 18 Jahren zu schließen.

Die Beratungsstelle ist Teil eines im Juni 2020 ins Leben gerufenen Modellprojekts zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt und wird jetzt als dauerhaftes Angebot etabliert. »Für die Diözese und die Bischofskonferenz ist Prävention ein integraler Bestandteil der kirchlichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie schutz- oder hilfsbedürftigen Erwachsenen«, betont Weihbischof Karrer, der als Leiter der Hauptabteilung Pastorale Konzeption für das Projekt mitverantwortlich ist.

Betroffene Männer erhalten bei Ruf und Rat eine kostenlose, niederschwellige Erstberatung, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt.
»Die meisten Betroffen haben sexualisierte Gewalt im Kontext der Familie erlebt.«
Bereits 38 Anfragen haben die Kontaktstelle erreicht. »Die Not, dass es in Stuttgart bisher keine passende Anlaufstelle gab, ist spürbar. Die meisten Betroffenen haben sexualisierte Gewalt im Kontext der Familie erlebt«, erzählt Mihaela Macan, die als psychologische Beraterin bei Ruf und Rat arbeitet.

Die Betroffenen stammen dabei aus allen gesellschaftlichen Schichten. Unter den Tätern finden sich Männer und Frauen. »Zwischen Täter und Opfer gibt es immer ein Machtgefälle«, erklärt die Leiterin der psychologischen Beratungsstelle, Gabriele Stark. »Das sind oft Menschen, die einem vertraut sind, zum Beispiel der eigene Lehrer oder jemand aus dem Sportverein.«

Johannes Lohbach ist Psychologe und ebenfalls bei Ruf und Rat tätig. »Worüber in der Beratung gesprochen wird und in welcher Geschwindigkeit an den Themen gearbeitet wird, bestimmt der Klient selbst«, erläutert der Business und Life Coach. »Sollten Befürchtungen hinsichtlich bestimmter Aspekte bestehen, können diese jederzeit angesprochen werden.«

Wichtig ist ihm, dass Betroffene keine Hemmungen haben, sich Hilfe zu suchen: »Im schlimmsten Fall wenden sich Männer an die Unterstützungssysteme und werden dann nicht ernstgenommen, zum Beispiel, wenn es sich um eine weibliche Täterin handelt. Das ist in 44 Prozent der Fälle so.« Er weiß auch, dass viele Männer sich erst spät Hilfe suchen: »Manche tragen das sehr lange mit sich rum.«

»Ein Mann ist genauso verletzlich. Er muss das nicht ertragen, wenn jemand etwas tut, das nicht in Ordnung ist«, betont Weihbischof Karrer. »Das ist kulturell in den Geschlechterrollen jedoch noch nicht verankert. Viele gestehen sich das nicht ein, schweigen darüber und ertragen es – bis es irgendwann nicht mehr geht. Das hat mit einem Männerbild zu tun, das in der Nachkriegszeit geprägt wurde. Deshalb ist dieses Projekt so wichtig.«

Gabriele Stark weiß, wie maßgebend es ist, auch die Angehörigen miteinzubeziehen: »Sie sind oft mitschockiert und so nah dran, dass sie etwas Eigenes benötigen. Zudem sind sie gleichzeitig emotionale Stütze für die Betroffenen. Das ist eine Doppelrolle, die nicht immer leicht ist.« In Deutschland haben laut Studien rund fünf Millionen Männer im Laufe ihres Lebens sexualisierte Gewalt erfahren. »Dass Männer sich hilfsbedürftig zeigen, ist in unserer Gesellschaft noch zu wenig verbreitet«, bedauert Pastoralreferentin und Traumatherapeutin Mihalea Macan.
Theresa Zöller

Info: Ruf und Rat – Tel. 07 11 2 26 20 55, beratungszentrum@ruf-und-rat.de, www.men-too.de

Der Artikel Glaubensland ist erstmals im Katholischen Sonntagsblatt erschienen. (KS #14 vom 02. April 2023)
Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion ab.