Artikel von Florian Gann: Stuttgarter als Kind missbraucht.

Ein Campingplatz, die Kinder spielen, dann passiert es:
Der Stuttgarter Philipp wird von einer Frau missbraucht. Warum es Jahrzehnte dauerte, bis er das aufarbeiten kann.

Philipp ist etwa sechs Jahre alt, er macht mit seinen Eltern Urlaub auf einem Campingplatz. Mehrere Eltern hocken zusammen, deren Kinder passen auf sich selbst auf, es sind fünf oder sechs, die älteste ist um die 18 Jahre alt. Irgendwann sind die alle in einem Caravan. Da kommt es zum sexuellen Missbrauch. Die Ältere berührt den sechsjährigen Philipp, der in Wirklichkeit anders heißt. Mehr kapiert er damals nicht, ein Spielchen muss das gewesen sein, so denkt er. Dann überschreibt der weitere Urlaub alle Gedanken dazu, das Leben geht weiter – und das Erlebnis bleibt mehr als 20 Jahre unter Verschluss. Bis es in einer Beziehung wieder hochkocht.

Die meisten Betroffenen von sexuellen Missbrauch sind Frauen. 21 Prozent der Frauen machen im Jugendalter Missbrauchserfahrungen, so eine Erhebung des Zentralinstituts für seelische Gesundheit Mannheim (ZI). Bei Männern erfahren demnach knapp fünf Prozent Missbrauch im Jugendalter. Diese geringere Zahl spiegelt auch eine gesellschaftliche Erwartung wieder: Männer können eigentlich gar nicht Opfer von sexuellem Missbrauch sein, so beschreiben es Expertinnen und Experten immer wieder. Viele Männer brauchen deswegen Jahre oder Jahrzehnte, ehe sie über ihre Erfahrungen sprechen – so war es auch bei Philipp.

Gesichter, Orte, die Geschichte taucht in Bruchstücken auf 

Philipp ist um die 30, als ihn die Erlebnisse der Vergangenheit einholen. Er ist in seiner ersten Beziehung, die so richtig ernst ist, so erinnert er sich. Eine, in der man nach großer Nähe sucht. Aber irgendwas sorgt für eine Distanz zwischen ihm und seiner Partnerin, er merkt, dass ihn etwas davon abhält, zu viel Intimität zuzulassen. Sein erster Instinkt: Beschäftige dich nicht damit.

Erst kann er es noch weglegen, der Alltag überschreibt die alten Erlebnisse wieder. Und da ist auch der Gedanke: „Wenn ich mit jemandem darüber spreche, sehen die mich nicht mehr als normal“, erinnert sich Philipp.

Was denn mit ihm los sei, spricht ihn seine Freundin irgendwann an. Dann fängt er an zu erzählen, alles kocht wieder hoch, verschiedene Szenen im Wohnwagen tauchen vor seinem inneren Auge auf, Gesichter, Orte. Das Erlebnis ist wie ein Erdbeben, für ihn selber, aber auch für die Beziehung, so beschreibt es Philipp. Und gleichzeitig ist es wie ein Puzzle, bei dem noch Stücke fehlen. Vieles kann er noch nicht zuordnen. Er fragt sich: „Ist das wirklich passiert?“

„Den Missbrauch zu verdrängen, ist ein Schutzmechanismus“

Gemeinsam mit seiner Partnerin sucht er nach Beratungsangeboten – und landet schnell bei Mihaela Macan von #MEnTOO (Männer auch), einem Angebot der Beratungsstelle „Ruf und Rat“. Es ist die einzige Anlaufstelle in Stuttgart, die es ausschließlich für Männer als Betroffene von sexueller Gewalt gibt. „Viele Männer kommen zu uns und wollen erst einmal klären, was passiert ist“, sagt Therapeutin Macan. „Ein Mann, der betroffen ist, passt nicht in das klischeehafte Bild, das die Gesellschaft von einem Mann hat. Den Vorfall zu verdrängen, ist daher auch ein Schutzmechanismus“, so Macan weiter.

 

Die Erinnerung an die Ereignisse tauchten als Bruchstücke in Philipps Kopf auf. Foto: Unsplash/Savannah B.

 

Das Thema Missbrauch sei für alle Betroffenen schambehaftet, aber was bei Männern hinzukomme, sei ein Gefühl von: „Ich muss die Kontrolle haben, stark und wehrhaft sein“, erklärt Macan. Aus diesem Verständnis heraus würden Betroffene auch selbst die erlebten Grenzverletzungen oft falsch deuten und verharmlosen.

Ähnliches sagte ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: Missbrauch durch eine Frau im Kindes- oder Jugendalter würden Männer oft umdeuten zu einer „ersten heterosexuellen Erfahrung“, also zu einvernehmliche Sex. In einer älteren Berliner Studie berichteten betroffene Männer zudem, dass sie oft auf Ablehnung stoßen würden, wenn sie von Gewalt durch Frauen berichtetet. Auch deswegen gehen Experten mitunter davon aus, dass die ohnehin hohe Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch bei Männern besonders hoch sein könnte.

Die Folgen: Schlafstörung, Ängste, Aggression

Bis Betroffene ihre Erlebnisse nicht mehr verdrängen würden, vergingen oft viele Jahre, so Macan. Meist würde das alles erst verarbeitet, wenn eine gewisse Stabilität im Leben eingekehrt sei, man ein sicheres soziales Umfeld um sich habe, so Macan. Und von diesem Zeitpunkt weg würden in der Regel noch einmal ein bis zwei Jahre vergehen, bis sich jemand Hilfe hole.

Missbrauchserfahrungen können sich nicht nur auf den Umgang mit Nähe und Intimität auswirken, wie bei Philipp. Auch Schlafstörungen, Ängste, Depressionen oder aggressives Verhalten gegen sich selbst oder andere können die Folge von Missbrauchserfahrungen sein, heißt es bei Ruf und Rat.

Philipp fügt langsam zusammen, was damals passiert ist

Philipp hat gleich nach dem Gespräch mit seiner Partnerin Hilfe gesucht – und sofort einen Termin bekommen. Ohne diesen schnellen Termin wäre bestimmt alles anders verlaufen, sagt er. Es wäre wieder der Alltag gekommen, er hätte es wohl verdrängt, bis es später wohl irgendwann erneut hochgekocht wäre.

„Man sollte keine Angst davor haben, darüber zu sprechen und es zu verstehen“, sagt Philipp, man müsse also mit einer gewissen Offenheit zu den Terminen kommen. Das sei zugleich sehr intensiv. „Nach einem Termin denke ich oft: Ich muss schlafen“, sagt er. Im Laufe der Sitzungen lernt er, die Puzzlestücke zusammenzufügen, einzuordnen, was er als Kind auf dem Campingplatz erlebt hat. Er will keine Details öffentlich äußern, welche Art von Missbrauch er erfahren hat, jedes neue Durchleben ist schmerzhaft. Aber so viel: „Die Wahrheit tut weh, aber es lohnt sich, sich mit ihr auseinanderzusetzen“, sagt er.

„Das Erlebnis wird nie abgeschlossen sein“

Ist diese Vergangenheit nun abgehakt? „Das Erlebnis wird nie abgeschlossen sein. Die Traumata sind da. Wie eine Wunde, von der die Narbe bleibt“, sagt Philipp. Aber er weiß auch: Er ist jetzt in Sicherheit, sie Situation von damals bedroht ihn nicht mehr.

Eines ist ihm noch wichtig: „Man muss sich nicht dafür schämen“, sagt Philipp. „Die Scham ist oft auf der falschen Seite“, ergänzt Macan. Sie solle aufseiten der Täterinnen und Täter sein.

Fakten rund um sexuellen Missbrauch

Erwachsene
Jede sechste erwachsene Frau in der EU hat sexuelle Gewalt, mitunter auch eine Vergewaltigung erlebt, heißt es in einem Bericht der Europäischen Grundrechteagentur. Schließt man körperliche Gewalt und Drohung mit ein, ist jede dritte Frau betroffen.

Jugendliche
Im Jugendalter machen 21 Prozent der Mädchen und Frauen Missbrauchserfahrungen, bei Jungen und Männern sind es knapp fünf Prozent. Das geht aus einer Erhebung des Zentralinstituts für seelische Gesundheit Mannheim (ZI) hervor. Die Täter sind dabei zu 95 Prozent männlich, das heißt auch Übergriffe auf Jungen werden zu einem großen Teil von Männern begangen. 4,5 Prozent der Übergriffe werden demnach von Frauen begangen.

Hilfe
Betroffene Männer finden Unterstützung bei #MEnTOO unter 0711 226 20 55 oder unter der E-Mail beratungszentrum@ruf-und-rat.de.
Ein Hilfsangebot für Frauen als Betroffene von sexuelle Gewalt bietet etwa Wildwasser Stuttgart (0711-85 70 68). Kobra e.V. (0711-162 970) unterstützt Jugendliche und Kinder mit Missbrauchserfahrung sowie deren Bezugspersonen.

 

 

 

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mueller@ruf-und-rat.de

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