Der Himmel ist mir auf den Kopf gefallen

MISSBRAUCH UND PRÄVENTION

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Seit gestern sieht man vielen U- und S-Bahnhaltestellen in Stuttgart die neue Kampagne von “Ruf un Rat” (RuR). Eine Woche lang macht die Beratungsstelle während der EM 2024 auf das oft tabuisierte Thema #MEnToo aufmerksam. Bild: DRS/ RuR

Über fünf Millionen Männer haben eine traumatisierende Missbrauchserfahrung erlebt.
Bei “Ruf und Rat” in Stuttgart finden sie Hilfe.

Die Fußball Europameisterschaft ist im vollen Gange. Überall in der Stadt trifft man feiernde Fußballfans, um dieses europäische Sportereignis zu feiern. Wer denkt schon daran, dass es im Stadion immer wieder zu sexuellen Übergriffen, Diffamierungen und überwiegend homophoben, abwertenden und misogynen Beleidigungen kommt ? Can Mustafa ist Leiter und pädagogischer Mitarbeiter beim VFB-Fanprojekt und bestätigt: “Die mittelalterlich anmutende Haltung mancher Männer und deren unreflektiertes Handeln und Sprechen an Spieltagen bietet häufig zurecht Nährboden für Kritik am System Fußball und seinen Fans, die natürlich mitnichten alle über einen Kamm geschert werden dürfen. Die eindeutige Mehrheit des Stadions erlebt das Stadion als einen sicheren Ort, doch jeder Fall und jeder wahrgenommene gefährliche Raum für einen Menschen, ist einer zu viel”.

Seit gestern läuft deshalb an vielen U- und S-Bahnhaltestellen in Stuttgart die neue Kampagne von “Ruf un Rat” (RuR), Psychologische Beratung und Telefonseelsorge Stuttart der Diözese Rottenburg Stuttgart . Eine Woche lang macht die Beratungsstelle während der EM 2024 auf das oft tabuisierte Thema #MEnToo aufmerksam.

Dirk Neumann (Name von der Redaktion geändert) ist einer der betroffenen Männer, die bei “Ruf und Rat” Hilfe gefunden haben. Im Interview beantwortet er Fragen zum Thema sexualisierte Gewalt bei Männern und wie ihm geholfen wurde.

Wie kamen Sie darauf, sich bei RuR Hilfe zu suchen?

Meine Partnerin unterstützte mich bei der Suche nach einer Beratungsstelle. Wir haben online gegoogelt und kamen auf RuR. Dann habe ich mich angemeldet. Parallel dazu habe ich mich bei einer anderen Beratungsstelle gemeldet, die mir auch RuR empfahl. Wir hatten Angst, dass es lange dauert, bis ich einen Termin bekomme. Aber ganz zeitnah nach meiner Kontaktaufnahme, bekam ich nach einer Woche einen ersten Termin. Das auf sexualisierten Missbrauch gezielte Angebot MEnToo hat ganz genau meine Themen angesprochen.

Was wünschen Sie sich als Mann* für andere Betroffene oder auch für die Gesellschaft?

Für andere Betroffene: dass man sich traut, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Weniger Stolz zu haben und dass man den männlichen Stolz im Schrank lässt. Wir sind nicht alleine und nicht als Einziger davon betroffen. Über fünf Millionen Männer haben ein Trauma oder Missbrauch erlebt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An diesen S- und U-Bahn-Stationen in Stuttgart hängen die Plakate der Aktion #MEnToo.

Was, glauben Sie, macht es betroffenen Männern* schwer, Hilfe zu suchen und anzunehmen?
Warum fällt es Männern* so viel schwerer als Frauen*?

Schuld sind die gesellschaftliche Strukturen und Normen. Männer müssen stark sein und keine Schwache zeigen. Diese Strukturen unterdrücken die Emotionen der Männer. Dieses Konstrukt macht Männer, partnerschaftliche Beziehungen und unsere Gesellschaft krank.  Es gibt viele Unterstützungsmöglichkeiten für Frauen, die betroffen sind. Frauen können mehr Unterstützungsmöglichkeiten erhalten, aufgrund der höheren Betroffenheit und Bekanntheit darüber. Für betroffene Männer gibt es sehr wenig Angebote, die zudem nicht bekannt und unsichtbar sind. Diese Nische füllt „Ruf und Rat“.

Was war Ihnen bei RuR hilfreich?

Die schnellen und zeitnahen Termine. Ich musste auf einen Folgetermin nie lange warten. Die große Empathie, Freundlichkeit und das Verständnis der Mitarbeiterin schon ab der ersten Kontaktaufnahme. Diese Einstellung hat mir geholfen. Ich habe mich von Mihaela Macan von „Ruf und Rat“ ernstgenommen gefühlt – und normal. Das war hilfreich, weil ich mich in einer sehr kritischen Situation befand. Ich war in einem Loch. Der Himmel ist mir auf den Kopf gefallen. Frau Macan hat mir beigebracht, dass die Gefahr von damals, nicht mehr existiert. Sie hat mir meine Vermutungen zu dem sexuellen Missbrauch bestätigt. Durch Frau Macan lerne ich, dieses Gefühl von Gefahr zu überwinden. Man kann es nicht vergessen, aber man kann in der Gegenwart und in Zukunft damit umgehen. Ich habe ja mein ganzes Leben hinterfragt. Der sexuelle Missbrauch hat mich dazu gebracht, mein ganzes Leben von dem Missbrauch in der Kindheit bis heute zu hinterfragen. Ich hatte den Bedarf zu hinterfragen, ob mein Verhalten in bestimmten Situationen normal war.

Wie hilft RuR betroffenen Männern*?

RuR hilft Männern durch die Schaffung einer angenehmen Atmosphäre, die Möglichkeit sich frei und freiwillig zu äußern. „Ruf und Rat“ bietet Professionalität, Fachlichkeit und Empathie. Frau Macan empfiehlt zudem hilfreiche Methoden und verständliche Bücher. Mir waren vor allem zwei Punkte wichtig: Frau Macan beurteilt nicht und sie respektiert mein Privatleben. Das heißt, die Informationen, die ich ihr gebe, werden vertraulich behandelt.

Ändert sich das Männerbild und wird es künftig leichter sein, Hilfe anzunehmen?

Leider denke ich das nicht. Das Männerbild ist noch zu stark von unserer Gesellschaft geprägt: Stärke zeigen, Emotionen vernachlässigen, das wahre Ich verstecken.

Was raten Sie betroffenen Männern*?

Offen und ehrlich mit sich selbst zu sein. Kommunikation. Darüber zu sprechen. Wir sind die Experten unserer „Baustellen“. Nicht den Anspruch haben, dass man alles allein schaffen muss. Das ist unrealistisch und es gibt einen Grund, warum Beraterinnen und Berater professionell dafür ausgebildet werden. Eine außenstehende Person ist da, um uns mit unseren Problemen zu zuhören und uns neue Perspektiven zur Verfügung zu stellen.

Interview von Anonym, Stuttgart